Waldemar Otto

Laokoon 86 - Torso vor Raster

Bei der Bronze-Plastik des Laokoon 86 von Waldemar Otto (*1929) handelt es sich um einen männlichen, unbekleideten Torso auf einem mächtigen, blockartigen Sockel. Die Figur sieht sich vier Pfeilern gegenüber, die den Sockel abschließen und über den Körper hinausragen. Der Torso selbst lässt durch die raue Oberflächengestaltung an starke Verletzungen denken. Das haarlose, blinde Haupt und der füllige Körper mit der krummen Haltung wirken geschunden.

Waldemar Otto, Laokoon 86, 1987, Bronzeguss, H 480 cm, Universität Trier

Der Mythos des trojanischen Priesters Laokoon, beschreibt das Dilemma eines Individuums, das sich in der Gesellschaft kein Gehör verschaffen kann: Laokoon warnt sein Volk vor der Gefahr, die von dem riesigen hölzernen Pferd ausgeht, welches sie nach Troja geschleppt haben. Doch noch bevor sich seine Prophezeiung bewahrheitet und die verborgenen griechischen Krieger aus dem Pferd klettern und die Stadttore für die Belagerer öffnen können, werden Laokoon und seine Söhne, durch zwei Schlangen der erzürnten Götter, getötet.

Im Laokoon 86 von Waldemar Otto (*1929) wird das Dilemma der antiken Gestalt durch, die für den Künstler typische, Fragmentarisierung und Deformation umgesetzt, die so weit geht, dass der Betrachter der Figur keine Fähigkeit zur Kommunikation mehr zusprechen kann. Neben den verstörenden Wunden im Oberkörper des Torsos, ist es vor allem der stark abstrahierte Kopf ohne ausgebildete Augen oder Ohren, der diese Wirkung hervorruft. Statt der Schlangen betonen die vier Pfeiler, die sich vom Sockel, wie die Stäbe einer Gefängniszelle, vor der Figur erheben, das Schicksal Laokoons – von der Außenwelt abgeschnitten, verstummt und ohne Handlungsmöglichkeiten.

Das so entstehende Kunstwerk bietet nicht nur eine moderne Interpretation der Mythologie, sondern behandelt letztendlich eine viel allgemeinere Vorstellung des Menschseins, die weit über individuelle Schicksale hinausgeht. »Man kann in Laokoon den zerrissenen modernen Menschen erkennen« beschreibt der Bildhauer, der in zahlreichen Innenstädten Deutschlands mit seiner Kunst im öffentlichen Raum vertreten ist. Die Nacktheit des Laokoons ermöglicht einerseits eine über das Individuelle hinausgehende Bedeutsamkeit; sie entblößt aber auch einen geschundenen Körper und zeigt so, direkt und schonungslos, die Folgen einer modernen Gesellschaft, in der die Stimme des Einzelnen keinen Wert hat.

Die Werkgruppe der Torsi vor Raster, zu der auch der Laokoon 86 gehört, stellt eine konsequente Weiterentwicklung in Ottos Oeuvre dar. Der Mensch, den er zuvor in seinen Torsi durch extreme Vereinfachung und Abtrennung aller Gliedmaßen, einschließlich des Kopfes völlig seiner Individualität beraubt hat, wird hier seinem leblosen Gegensatz, dem beengenden Raster, gegenübergestellt. Zusammen mit den Figur-Wand-Kombinationen zeigt Ottos Oeuvre somit eine tiefe Faszination für den von äußerlichen Umständen bedrängten Menschen unserer Zeit.
Seine die Verletzlichkeit und Qual des Menschen in schonungsloser Hässlichkeit darstellende Qualität, ließ den Laokoon 86 schon vor seiner Aufstellung auf dem Campus der Universität Trier Ziel von Kritik und Protesten werden.

Waldemar Otto, der einen offenen Wettbewerb gewonnen hatte, musste seinen Entwurf wiederholt überarbeiten, bis das Kunstwerk auf dem eigens dafür aufgeschütteten Hügel vor dem Psychologie-Gebäude verwirklicht wurde. Dort kann der Laokoon 86 in seiner Monumentalität nicht nur ein optisches Zentrum des Campus bilden, sondern auch seine inhaltliche Wirkung – als verstummtes Individuum, isoliert und abgewendet von der Gesellschaft – entfalten.

Kunstobjekte in der Nähe

Laokoon 86 - Torso vor Raster

  • Universität Trier | Universitätsring 10
  • 54296 Trier
  • E-Gebäude

Referenzen

Bieg, Peter: »Der Laokoon. Trauriger Wächter über den Campus«, in: 111 Orte in Trier, die man gesehen haben muss. Mit Fotografien von Maximilian Staub, o.O. 2016, S. 55-56.

Gehring, Ulrike: »Laokoon 86, 1987«, in: Ralf Dorn, Ukrike Gehring, Bernd Nicolai [Hrsg.]: Auf der grünen Wiese. Die Universität Trier. Architektur – Kunst – Landschaft, Trier 2004, S. 161-163.

Gehring, Ulrike: Wie die Kunst auf den Berg kam, in: Ralf Dorn, Ukrike Gehring, Bernd Nicolai [Hrsg.]: Auf der grünen Wiese. Die Universität Trier. Architektur – Kunst – Landschaft, Trier 2004, S. 27-35.

Morgen, Roland: »Vom Hass-Objekt zum Wahrzeichen«, Trierischer Volksfreund 04.05.2006, unter: www.volksfreund.de (abgerufen am 01.03.2015).

Unbekannt: »Laokoon«, Grüner Campus, unter: www.uni-trier.de (abgerufen am 03.03.2015).

Unbekannt: »Otto, Waldemar (Homepage des Künstlers)«, in: Haiss, Thomas [Hrsg.]: Worpsweder Gegenwartskunst, unter: www.worpsweder-gegenwartskunst.de (abgerufen am 01.03.2015).

Weichardt, Jürgen: »Torso als Chiffre des Leidens«, in: Ausst.Kat.: Waldemar Otto. Figur und Raum. Skulpturen 1969-1983. Heilbronn 1984, S. 125-128.

Wollscheid, Marcel: »Laokoon 86«, Trierischer Volksfreund 23.04.2013, unter: www.volksfreund.de (abgerufen am 01.03.2015).

AT/JE/LM