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Grußwort zum Start von Prof. Dr. Michael Jäckel, Präsident der Universität Trier

Trier, 27. Juni 2017 • In seinem Buch „Die Erfindung der Kreativität“ schreibt Andreas Reckwitz, dass Kreativität heute „Kreativitätswunsch und Kreativitäts­impe­rativ, subjektives Begehren und soziale Erwartung [umfasst]. Man will kreativ sein – und man soll es sein.“ (2012: 10)

Offenbar werden also immer mehr Bereiche unserer Gesellschaft davon erfasst. Nehmen wir einleitend ein Beispiel, das nicht in den engeren Bereich der Kunst gehört, aber mehr und mehr durch künstlerische Elemente angereichert wird. Als ich den Streetfood-Markt des diesjährigen Altstadtfestes durchlief, trat mir diese Kreativität auf engstem Raum sehr häufig entgegen. Es erinnerte mich an eine weitere Beobachtung von Andreas Reckwitz, der nicht nur von einer Entgrenzung der Kunst, sondern auch von einer „Erweiterung des Verständnisses dessen, was als materieller Träger, als Objekt von Kunst in Frage kommt“ (ebenda: 102) sprach. Als ich die Speise­karte mit den unendlich vielen Variationen belgischer Pommes sah, kam mir ein kluger Satz in den Sinn: „Früher gab es ein Brot für jeden Geschmack. Heute gibt es für jeden Geschmack ein Brot.“ (Voth 2010: 44) Individualisierung und Ästhetisierung gehen Hand in Hand.

Diese Erweiterung von Kreativitätsfeldern korrespondiert mit einer Ausweitung der Orte, an denen Kunst oder Künstlerisches zu sehen ist. Man bewegt sich sozusagen mehr und mehr außerhalb des Rahmens, wobei durchaus der Bilderrahmen hier Pate steht. Die Stadt, die früher als vorwiegend funktionaler Ort wahrgenommen wurde, hat insbesondere in den früheren Residenzstädten sehr früh eine Kulturalisierung erlebt. Jede Fassade, jedes Ensemble diente dem Ausdruck von und dem Wettbewerb um Ästhetik. Nicht erst heute, aber heute umso mehr, wetteifern die großen Metropolen dieser Welt um symbolische Orte, die Reiseentscheidungen beeinflussen. Selbstverständlich geht es auch um die Demonstration von Macht. Zugleich kann man aber auch ver­meintlich veralteten Systemen noch etwas abgewinnen, wenn man mit offenem Blick und aufmerksam seine Umwelt wahrnimmt. Vergangene Woche war ich in das KOSMOS-Theater in Berlin eingeladen, ein Ort, an dem „Die Legende von Paul und Paula“ zu DDR-Zeiten (KOSMOS-Kino) Uraufführung erlebte: ein sehr interessantes Gebäude, das durch den Hinweis auf diese Premiere im Rahmen der Eröffnungsrede einen zusätzlichen Wert erhielt. Der nachmittägliche Spaziergang über die Karl-Marx-Allee war danach ebenfalls einem Spaziergang durch ein Museum ähnlich. Die Kunst hat mehr und mehr den öffentlichen Raum erobert und hat damit die Vorstellung von einem Museum in gewisser Weise mit entgrenzt.

Parallel zu dieser Entwicklung hat sich neben die Traditionsallianz von Kunst und Kirche (in historischer Hinsicht) die Allianz von Kunst und Finanzwelt und, befördert durch das öffentliche Bauwesen, die Allianz von Kunst und Bau (Stichwort: Kunst am Bau) hinzugesellt. Die Museen selbst wiederum sehen sich zunehmend der Heraus­forderung gegenüber, dass Kunstwerke den eben angesprochenen Rahmen sprengen und Räume für sich in Anspruch nehmen, die ein Lenbachhaus oder eine National­galerie gar nicht zur Verfügung stellen kann. Das Museum Tate Modern in London hat deshalb seit dem Jahr 2000 eine Turbinenhalle als Teil ihres Ausstellungskonzepts gewählt. Als Anselm Kiefer in Bonn ausgestellt wurde, sah sich die Bonner Kunst­halle ebenfalls vor große Herausforderungen (im wahrsten Sinne des Wortes) gestellt. Und wenn ich heute hier zu Studierenden des Faches Kunstgeschichte und zu Studierenden des Design-Studiengangs der Hochschule Trier spreche, will ich doch auch den Hinweis geben, dass der generator der Universität Trier in räumlicher Dimension an diese neuen Entwicklungen anknüpft. Und wenn schon eine Turbinen­halle erwähnt wurde, so darf auch der Hinweis auf das interessante Konzept der Völklinger Hütte nicht fehlen. Gerade hier hat sich in den letzten Jahren das Thema „Urban Art“ eine dauerhafte Heimstatt verschafft.

Urban Art jedenfalls ist ein sehr markanter Ausdruck der Ausweitung des Kunst­feldes, in dem die Kunst im Grunde genommen etwas tut, was ihr die Werbung schon immer vorgemacht hat. Es gibt nicht nur den Spot und das Plakat, es gibt auch den Kanaldeckel und die Hauswand, es gibt das fahrende Auto und die Laterne, die Bushaltestelle und das Trottoir, den Dachgiebel und den Vorgarten und, nicht zuletzt: den Menschen selbst. Die Tätowierung, häufig in und im Umfeld totaler Institutionen zu finden, kann, mit den Worten des Trierer Soziologen Alois Hahn, ein „besitzanzeigendes Brandmal“ (Hahn 2010: 128) ebenso wie „stolze Demonstration der Andersheit“ (ebenda: 125) sein.

In all diesen Ausweitungen steckt eine zentrale Frage, die die Avantgarde der etablierten Kunst immer entgegenhielt, im Zuge der Pop-Art-Bewegung aber besonders deutlich zu Tage trat: „Wie unterscheidet man zwischen einem Kunstwerk und der übrigen Welt?“ (Gay 2008: 512) Die Pop-Art, so Peter Gay in seinem Buch über die Moderne, „warf anerkannte künstlerische Kategorien kühn durcheinander, vermengte unkonventionelle mit trivialer Kunst, Originale mit Faksimiles, sozial engagierte Kunst mit Kunst um der Kunst willen, und ließ die bereits angestrengt wirkenden Bemühungen um eine Definition der Kunst und einer Vorhersage ihres weiteren Schicksals weitgehend als vergeblich erscheinen.“ (ebenda: 504) Lebendige Kunst verband sich mit einem demokratischen Impuls. Während der Realismus des 19. Jahrhunderts die Fabrikarbeit (Man denke an das Eisenwalzwerk von Adolph von Menzel) entdeckte, wies dieser neue Realismus einen Blick in die Welt der alltäglichen Objekte. Es war mehr als ein „satirische[r] Angriff auf die Werbeindustrie (zit. nach Stock/Telgenbüscher 2009: 125), es war ein polyvalenter Blick in eine Welt des Überflusses, der Werbung und einer daraus hervorgehenden Alltagskultur. Viele dieser Künstler hatten aus ihrer Liaison mit der Werbeindustrie die Stadt bereits als größte Galerie der Welt entdeckt.

Auch Trier kann als eine solche Galerie wahrgenommen werden. Die Zielsetzung des heute hier vorzustellenden Projektes ist, neuzeitliche Kunst kennenzulernen, zugleich neuere und neueste kulturelle Errungenschaften der Stadt Trier zu erkunden. Kunst nach 1945: Vom Laokoon über die gesprayte Banane bis hin zum Theatergraffito hat sich alte mit mehr oder weniger neuer Kunst vermischt. Daran auf neue Weise teilhaben zu können, ist das Ziel von BE PART OF ART. Und ich möchte hinzufügen, dass es in Trier sehr viel zu bestaunen gilt. Man muss nur den Blick z.B. auch etwas nach oben schweifen lassen. Schon entdeckt man Figuren in Giebeln und Nischen, die vielleicht noch darauf warten, dokumentiert zu werden. Wer jetzt an den „Struwwelpeter“ denkt, dem sei (in leichter Abwandlung des Originals) gesagt:

„Wenn der Hans zur Schule ging,
Stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
Schaut er aufwärts allenthalben:
Vor die eignen Füße dicht,
Ja, da sah der Bursche nicht,
Also daß ein jeder ruft:
„Trier: Da liegt was in der Luft!“

Ich danke allen Beteiligten für ihr Engagement und wünsche viel Erfolg bei den noch zu realisierenden Projekten.

Literatur

Gay, Peter (2008): Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs. [Aus d. Amerik.]. Frankfurt am Main.

Hahn, Alois (2010): Körper und Gedächtnis. Wiesbaden.

Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin.

Stock, Jonathan; Telgenbüscher, Joachim (2009): Der schöne Schein. In: GEO EPOCHE, Nr. 40, S. 116-125.

Voth, Joachim (2010): Das Glück der bunten Warenwelt. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 25, S. 44.